Der Hang zur Faulheit
Eine Reflexion über Nietzsche und die Moderne
Friedrich Nietzsche meinte, dass der Reisende, der viele Länder und Völker und mehrere Erdteile gesehen hatte und gefragt würde, welche Eigenschaft der Menschen überall wiederzufinden ist, wahrscheinlich antworten würde: sie haben einen Hang zur Faulheit. Sie verstecken sich unter Sitten und Meinungen.
Warum tun sie das?
Aus Furcht vor dem Nachbarn, Kollegen und Mitmenschen, der sich ebenso versteckt und von ihnen erwartet, sich konventionell zu verhalten. Die Menschen wissen natürlich, was sie sich mit einer unbedingten Ehrlichkeit aufbürden würden. Auf diese zu erwartenden Beschwerden verzichten sie aus Bequemlichkeit gern und borgen sich stattdessen fremde Meinungen.
So mancher Zeitgenosse lebt damit ganz gut, aber früher oder später fragt ihn eine innere Stimme, ob er weiter zur Masse gehören will. Und dann entdeckt er plötzlich einen Ausweg, der darin besteht, seinem Gewissen zu folgen, das ihm zuruft: “Sei du selbst!”
„Denn das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst.“
„Protect me from what I want“ (Schütze mich vor dem, was ich will) – mit diesem Spruch, der 1982 in riesiger Leuchtschrift über dem Times Square prangte, wurde die amerikanische Künstlerin Jenny Holzer weltberühmt.
Immer wieder ist die Künstlerin gefragt worden, wie man das überhaupt lesen, geschweige denn verstehen solle, was da so schnell sein Buchstabenlicht von einem Leuchtpunkt an den anderen weitergebe. Viel kann sie dazu nicht sagen. Als vor Jahren jemand wissen wollte, was denn der Satz „Protect me from what I want“ in Wahrheit bedeute, hat Holzer ohne Zögern bekannt:
“Ich habe auf Anhieb darauf auch keine Antwort, ich muss erst einmal darüber nachdenken, wovor ich eigentlich geschützt werden wolle.”
Ist das nicht merkwürdig?
Da schafft jemand ein Kunstwerk in Form eines Appells oder es könnte sogar eine Art Gebet sein und weiß selbst nicht, was es bedeutet? Nun, eigentlich nicht, denn der scheinbar simple Satz hat es in sich. Daher rührt auch seine Kraft.
Zunächst ist da bei mir das Gefühl, dass dieser Appell etwas mit mir zu tun hat und ich frage mich vielleicht, welche „falschen“ Wünsche ich haben könnte. Ich als Mensch, bin ja einer Vielzahl möglicher Handlungsmotive ausgesetzt: Trieben, Neigungen, Interessen, Gefühlen, äußeren Einflüssen, verschiedenen Autoritäten.
Wann immer ich solchen Einflüssen nachgebe, handle ich eigentlich fremdbestimmt und damit unfrei. Der Satz von Jenny Holzer berührt mich also deshalb, weil ich nichts mehr verabscheue, als fremdbestimmt zu sein. Natürlich sagen das viele Menschen von sich und sind selbstverständlich davon überzeugt, dass das, was sie sich wünschen und was sie anstreben, ihre ganz eigenen Wünsche sind.
Aber wir leben nicht im luftleeren Raum und die wenigsten von uns auf einer einsamen Insel und selbst da ist man heute normalerweise „connected“. Unsere Meinungen darüber, wie wir leben sollen, was wir erreichen können, führen zu jenen Wünschen, vor denen wir später wünschen, jemand hätte uns davor schützen können.
Wir haben uns getäuscht, besser gesagt, wir haben uns täuschen lassen und dann sind wir enttäuscht. Was ich will, ist also, wenn es schlecht läuft, kein Produkt des Nachdenkens, sondern des Nachmachens. Bitte beschütze mich vor dem, was ich will! Denn ich bin in Gefahr, fremde, d.h. für mich falsche Vorstellungen und Wünsche zu übernehmen, weil Meinungen in Form von Theorien, Hypes oder Sitten sehr mächtig sein können.
Ein klassisches Beispiel ist der Sohn eines Arztes, von dem natürlich erwartet wird, dass er auch Arzt werden wird. Vielleicht sind sogar beide Eltern Mediziner und Papa ein besonders erfolgreicher Chirurg und später dann Chefarzt. Sohnemann hat aber eine Künstlerseele und die regt sich ab und zu als leise Ahnung. Er wird die künstlerische Neigung vielleicht als Hobby verwirklichen, aber selbstverständlich Medizin studieren und Jahrzehnte später wird er auch ein erfolgreicher Arzt sein.
Alles, was gelebt werden will, aber nicht gelebt wird, meldet sich früher oder später in irgendeiner überraschenden Art und Weise. Als Alkoholismus oder in Form einer anderen Art der Sucht, als tatsächliche Krankheit oder als Unfall oder Schicksalsschlag. Im besten Fall findet unser promovierter Mediziner mit Künstlerseele die Kraft zu einem zweiten Leben. Im schlimmsten Fall verliert er erst seine Seele und dann sein Leben.
Nicht nur auf der persönlichen Ebene erleben wir die Macht der Meinungen über Menschen. Meinungen sind Viren nicht unähnlich. Sie können sich rasend schnell verbreiten, vor allem, wenn sie sich gut zu tarnen wissen und auf ein schwaches Immunsystem treffen. Unser Gedächtnis und unsere Kultur sind die wichtigsten Teile unseres geistigen Immunsystems. Es muss die heutigen, gefährlichen Viren der kollektiven Verblendung, des Verlusts der Vernunft, der Dummheiten des Nationalismus, der Geburt neuer Diktatoren erkennen und unschädlich machen.
Ich war in den letzten zwei Pandemie-Jahren, wie viele von uns, plötzlich gezwungen, mehr Zeit zu Hause zu verbringen. Ich habe sie unter anderem dafür genutzt, die Bücher und Texte einiger der größten Philosophen der Menschheit zu lesen und mich mit ihren Gedanken anzufreunden.
Ein Zeitgenosse fragte mich:
“Was sollen wir in der heutigen Zeit mit den spinnerten Ideen alter Philosophen-Genies anfangen? Die hatten doch von unseren modernen Problemen gar keine Ahnung.”
Ich halte das für einen großen Irrtum und bin im Gegenteil davon überzeugt, dass gerade jene Philosophen, Künstler und Denker, die in ihrer Zeit oft unverstanden blieben, uns etwas zu sagen haben.
Bei meinem großen, verkannten und zeitweise verfemten Landsmann Friedrich Nietzsche finden wir zum Beispiel in seinem Werk „Die fröhliche Wissenschaft“ von 1882 eine Parabel niedergeschrieben, in der er die Figur des „tollen Menschen“ auftreten lässt. Dieser ruft:
„Wohin ist Gott?“
„Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!“
„Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet.“
Mit dem „tollen – also verrückten – Menschen“ beschreibt Nietzsche hellsichtig eine Welt, die, aus ihren Angeln gehoben, zu wanken beginnt. Nietzsche, Sohn eines Pfarrers und großer Kritiker der Christlichen Religion, meinte, dass wir durch unsere Lebensführung Gott vernichtet haben und niemand es bemerkt hat. War Nietzsche Nihilist? Ganz im Gegenteil! Er sah sehr klar, dass der Mensch, der zuerst das Wichtigste seines Daseins ins Jenseits verlagert hatte, nun vor dem blanken Nichts stünde, weil Gott und das Jenseits nicht zuletzt durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt unglaubwürdig geworden waren.
Der Nihilismus, von lat. nihil: „nichts“ begleitet uns seit dem neunzehnten Jahrhundert und ist der Soundtrack des Dramas, in dem wir Menschen verstrickt sind. In Anlehnung an Mephistopheles, der in Goethes Faust behauptet, „alles, was entsteht, / Ist wert, daß es zugrunde geht; / Drum besser wär’s, daß nichts entstünde“, haben die Nihilisten eine pessimistische Sicht auf die Welt und ihre Werte. Nietzsche unterteilt die Nihilisten in passive (wie Schopenhauer) und reaktive (wie die russischen Anarchisten, die die Gewalt und Zerstörung des Staates predigen und wie Sergey Nechayev zur „gnadenlosen Zerstörung“ aufrufen). Nietzsche setzt ihnen einen aktiven Nihilismus entgegen, der allein es ermöglicht, alle Werte umzuwandeln und eine neue Welt zu schaffen, in der der Übermensch, also der Schöpfer seiner eigenen Werte, triumphiert.
Heidegger sah voraus, dass durch die wissenschaftlich-technische Revolution der rechnende Verstand, das rechnende Denken zu dominant werden wird.
„Wo der Verstand nur rechnet, schrumpft das Denken.“
Das rechnende Denken kalkuliert und hetzt von einer Chance zur nächsten und kommt nicht zur Besinnung. Ja, viele von uns hetzen von Chance zu Chance, bis der Burnout sie schachmatt setzt. Unsere Welt hat sich seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts gravierend verändert. Nietzsche schrieb über sich, er sei kein Mensch, er sei Dynamit. Die Druckwelle ist heute noch zu spüren und von den Wänden unseres gedanklichen Hauses, welches wir Weltanschauung nennen, bröckelt der Putz.
Wir haben vor langer Zeit unseren Halt verloren und jeder von uns versucht auf seine Weise diese Krankheit zu therapieren. Dem Bedeutungsverlust der Religion folgte der Verlust objektiver Moral und der Verlust aller Werte. Heute meinen viele, dass es keine Wahrheit mehr geben kann. Damit gäbe es aber auch kein „gut“ und kein „schlecht“, kein „richtig“ und kein „falsch“. Dann wäre es sinnlos, nach Wahrheit und dem Guten und Schönen zu suchen.
Die Wahrheit, das war bei den alten Griechen Aletheia, das bedeutet sinngemäß „Das Unverborgene“ und war zu verstehen als Gegensatz zu Lüge und Irrtum. Bei Parmenides trägt die Wahrheit noch Züge einer Gottheit und Aletheia, als das wahre Wesen der Dinge, steht hier im Gegensatz zu den Meinungen der Sterblichen, der doxa.
Der Sage nach war Aletheia eine Tochter des Zeus. Prometheus, der dem Menschen das Feuer brachte, als Strafe jedoch von den Göttern an den Kaukasus geschmiedet wurde, wo ihm ein Adler täglich an der Leber fraß, formte sie aus Ton. Während der Nacht, erzählt die Sage, kam der Gehilfe des Prometheus, Dolos, der Repräsentant des Betrugs und der Täuschung, und schuf mit Apátē eine der Aletheia identische Figur. Doch Apátē, die Personifikation der Täuschung, fehlten die Füße, denn Delos hatte nicht genügend Ton. Prometheus war am Morgen verblüfft über die scheinbar gleiche Identität der zwei Gestalten und hauchte beiden Leben ein. Die anmutige Aletheia ging mit festem Schritt ihren Weg in die Zukunft. Apátē aber, das Kind des Betrugs, erhob sich zwar, konnte jedoch ohne Füße nicht gehen und blieb zurück. Daher kommt möglicherweise auch das Sprichwort „Lügen haben kurze Beine“.
Ihren Namen verdankt Aletheia übrigens dem Fluss und der Göttin Lethe. Wer von seinem Wasser trinkt – und das sind alle Sterblichen nach dem Tod und vor der Geburt – wird eingehüllt vom Vergessen. Aletheia also, ist jene, die sich erinnert, die das Vergessene, das Verborgene offenbart, die ans Licht bringt, was geheim ist und im Dunkeln liegt. Sie verweist auf das Wesentliche und schafft damit Wahrheit.
Heute ist für mich eines der beunruhigendsten Dinge das Auslöschen der Grenze zwischen Wahrheit und Täuschung. Es wird versucht, uns in eine Welt hineinzuzwingen, in der alles zulässig ist, jede Lüge als Wahrheit verkauft werden kann und jede Verschwörungstheorie über die Vernunft siegt. Im Lichte dessen bin ich überzeugt davon, dass wir allen Ideen und Personen misstrauen sollten, die missionarisch wirken und von uns Gefolgschaft fordern.
In der Odyssee wird erwähnt, dass Odysseus an dem Ort vorbeiging, an dem die Sirenen lebten, die die Seeleute mit ihrem Lied bezauberten, die daraufhin ihr wahres Ziel, ihre Frauen und Kinder wiederzusehen, vergaßen und ihnen folgten zu ihrer Insel, wo sie schließlich den Tod fanden. Auf der Wiese, auf der die Sirenen lebten, befanden sich Knochenhaufen um sie herum, Kadaver mit verhärteter Haut und verfaultem Fleisch. Wie Odysseus die Gefahren der betörenden Gesänge der Sirenen kannte und deshalb seinen Männern befahl, sich die Ohren mit Wachs zu verschließen, so müssen wir heute uns besinnen und lernen, unsere Ohren zu verschließen vor den süßen, verheißungsvollen Lügen der modernen Sirenen. Odysseus kam am Ende wohlbehalten nach Ithaka zurück und konnte seine Frau und seinen Sohn in seine Arme schließen.
Mein Ithaka ist die Frage nach dem guten Leben und wie ich ein guter Mensch sein kann. In dieser Richtung suche ich nach Wahrheit. Dabei mache ich Fehler und irre mich, vor allem, wenn ich unbekanntes Terrain erkunde. Am Beispiel meiner eigenen Meinungsbildung zum Thema Corona lässt sich das gut illustrieren. Anfang 2020, als die Meldungen über die ersten Infizierten erschienen, war ich der Meinung, dass wir vernünftig handeln sollten. Vernünftig, das bedeutete aus meiner Sicht, Experten und Wissenschaftlern zu vertrauen, also war ich im Team „Follow the Science“. Das schien mir der einzig richtige Weg, denn ich habe keine Ahnung von Virologie, also vertraue ich den Empfehlungen von Virologen und lasse mich selbstverständlich impfen. So habe ich mich zumeist an die Empfehlungen der Regierung und der öffentlich-rechtlichen Medien gehalten, weil ich annahm, dass sich in unserem Land Politiker mehr oder weniger rational verhalten.
Hier muss ich mir heute selbst Naivität vorwerfen. Durch die Philosophie habe ich für mich so manches verstanden und korrigiert. Ich frage seltener als früher: „Wer hat recht?“ weil das ja auf der falschen Annahme beruht, dass es einen Menschen geben kann, der eine Meinung äußert, die vollständig und richtig die Realität beschreibt. Trotzdem brauche ich natürlich eine Haltung zu den Themen unserer Tage. Ich brauche dazu Zeit und die Fähigkeit, auf vorschnelle Urteile zu verzichten. Das fällt mir, als spontanen, manchmal impulsiven Menschen, alles andere als leicht. Ich merke, dass ich ohne einen starken Sinn für mich selbst, für das was ich wirklich will und brauche, verloren bin. Und nicht die Wissenschaft, sondern mein Eigensinn ist mein Kompass in einer schnelllebigen und zunehmend sich hysterisch gebärdenden Welt.
Für Aristoteles war ein gutes Leben gleichbedeutend mit einem tugendhaften Leben. Er verstand darunter, das richtige Maß zu finden, zwischen zwei Extremen. Zenon von Kition, der Begründer der stoischen Philosophie, hat gelehrt:
„Einstimmig sollst du leben.“
Er meinte damit: Du sollst mit deinem Wesen übereinstimmen; vollziehe keine Tätigkeiten, die deinem Wesen widersprechen. Für die Stoiker geht es um das Praktische: Wie können wir Worte und Taten zusammenbringen? Wie Bedürfnisse und Befriedigung? Wie Wünsche und Handlungen? Wie werden aus bloßen Plänen und Vorhaben Verdienste und Erfolge? Zenons Antwort ist grundlegend: Widerspreche bei allem, was du tust, niemals Dir selbst. Und hier sind wir beim Eigensinn als Tugend.
Schon immer, scheint es mir, suche ich für mich einen Platz in der Welt, der wahrhaft mein ist. Ich glaube, wir haben alle eine innere Stimme, die uns warnt, wenn wir im Begriff sind, einen Weg einzuschlagen, der uns von uns wegführt. Sokrates nannte diese innere Stimme seinen „Daimonion“ und verstand sie als höheres Wesen, das ihm seit seiner Jugend als göttliches Geschenk begleitete und sich nur dann meldete, wenn er etwas Unrechtes im Begriff war zu tun. Für Sokrates war sie die höchste Instanz, sogar dann, wenn die Befolgung ihrer Worte bedeutete, wider den eigenen, rationalen Erkenntnissen zu handeln.
Für viele Philosophen war das der Urgrund der Wahrheitssuche. Meine persönliche Wahrheitssuche beginnt damit, dass ich alles tue, um meine innere Stimme nicht zu überhören, wenn sie sich meldet. Sie sagt mir:
„Glaube denen, die die Wahrheit suchen und zweifle an denen, die glauben, sie endgültig gefunden zu haben.“
Daher kommt auch meine Sympathie für die Mavericks und Outcasts, von denen einer Friedrich Nietzsche war, geboren als Sohn eines Pfarrers in Röcken, einem kleinen Dorf, siebzehn Kilometer entfernt von Leuna, dem Geburtsort meines Urgroßvaters.
„Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde”, schrieb Nietzsche in der Vorrede von “Also sprach Zarathustra” und bezeichnete den Menschen als “Übergang”.
Man erkennt: Nietzsche war unzufrieden mit dem Menschen. Der Mensch sollte überwunden werden, weil sein ausdauerndes Streben nach Glück ihn am Bestehenden festhalten lässt. Nietzsche argumentierte, dass der Hang des Menschen zur Faulheit und Bequemlichkeit dazu führt, dass er nach Führung und Anpassung verlangt, um Teil einer uniformen Masse zu sein.
Nietzsches Übermensch ist oft falsch interpretiert worden, ja missbraucht worden. Er ist mitnichten das Gegenteil des „Untermenschen“, sondern des „menschlich-allzu menschlichen“ Menschen. Heute wäre das Gegenteil des Übermenschen vielleicht der „Konsumidiot“ für den der Strom aus der Steckdose kommt und das Gehalt vom Chef.
Nietzsches Übermensch ist also nicht ein neuer Mensch mit besonderer Muskel- oder Gehirnmasse oder angerichteten Eigenschaften, die ihm übermenschliche Kräfte verleihen, sondern er unterscheidet sich vom „normalen“ Menschen nur in einem Punkt: Er ist imstande, das Leben ohne vorgegebenes Ziel (Moral) zu leben und, statt daran zu verzweifeln, es zu bejahen und dabei lebendig und produktiv zu sein.
Lebendig und produktiv zu sein – das ist in unserer Zeit schwieriger als es scheint. Vielleicht ist es eine übermenschliche Anstrengung, seinen ganz eigenen Weg zu finden. Doch ich meine, es lohnt sich. Und Freude ist in mir, weil ich weiß, dass ich frei bin. Wie Nietzsche in „Die fröhliche Wissenschaft“ schreibt:
„In der Tat, wir Philosophen und “freien Geister” fühlen uns bei der Nachricht, dass der “alte Gott tot” ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so “offnes Meer”.
Mein Motto für den, hoffentlich langen, Rest meines Lebens soll mit Nietzsches Worten lauten:
„Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken — und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“