Was es heißt, ein neues Leben anzufangen?
Ein Versuch über Zuversicht und die Frage, warum, das, was den einen leben lässt und antreibt, den anderen zur Verzweiflung bringt…
Aus dem Song „Goldener Westen“ Die Toten Hosen: Die Zeit schießt uns durch unsere Venen. Wir schau en ihr dabei zu. Jeder denkt „Ich mach es mal anders“. Alle träumen von der Flucht. Von einem Wandern zwischen den Welten, ohne Steine in den Schuhen. Von einem Leben im Vorbeigehen. Von da nach hier nach irgendwo.
Freiheit – ich kenne deinen Namen aus jedem Reklamefilm, warum habe ich dich hier nie gesehen? Du hast so viele Freunde, gut, dass du im Westen lebst. Freiheit – das ist so ein schöner Name. Wer bist du, ich kenn dich nicht, ich hab dich hier noch nie gesehen.
Für dich gehen wir über Leichen, zeig mir endlich dein Gesicht, ich hab dich hier noch nie gesehen. Freiheit!
Der Songtext macht mich nachdenklich und ich frage mich: Wie frei sind wir, unserem Leben eine neue Richtung zu geben und uns dabei zu vitalisieren? Ein neues Leben beginnen: Das kann Verheißung oder Befürchtung sein. Ich habe in meiner Familie und in meinem Freundeskreis viele Beispiele sowohl für die freiwillige, als auch die erzwungene Entscheidung, ein neues Leben zu beginnen. Gründe dafür sind Krankheit, Tod, Krieg, Vertreibung, aber auch Mut, Sehnsucht, Phantasie und Kreativität. Doch warum bleiben viele Menschen, vielleicht die meisten, so seltsam passiv? Was haben die Aktiven, was den Kontemplativen fehlt?
Initiative im Leben braucht eine Art Zuversicht, aus der wir frei bleiben und frei handeln können. Diese Kraft finde ich in unterschiedlichen Formen in der Philosophie. Im folgenden Beitrag versuche ich, mich diesem Thema aus sehr persönlicher Sicht zu nähern.
Krankheiten sind Höflichkeitsbesuche des Todes. – Hans Kudszus
September, noch acht Tage bis zu meinem 62. Geburtstag. Ich liege nach Darmverschluss, Krebsdiagnose und mehreren Notoperationen auf der Intensivstation des Klinikums Passau. Und ER ist da!
Die Todes-Karte symbolisiert im Tarot Transformation, radikale Beseitigung und Wiedergeburt. Der Tod bittet uns um eine totale Reinigung; wir sollen das Alte zugunsten des Neuen aufgeben. Er fordert uns auf, loszulassen und weiterzugehen; eine Tür zu schließen und eine andere zu öffnen. Er ist die Säuberung, die uns von innen heraus reinigt. Er ist das Abstreifen der Haut, die Reinigung durch Zerstörung. Er zerstört, um neu zu erschaffen, und fordert Übergang, Veränderung und Erneuerung. Die Vergangenheit liegt hinter uns, die Zukunft vor uns.
In einem der zahlreichen Märchen meiner Kindheit, es war „Gevatter Tod“, wurde folgende Geschichte erzählt: Ein sehr armer Mann suchte einst für sein dreizehntes Kind einen Paten – einen sogenannten Gevatter, wie man diesen in früheren Zeiten auch nannte. Der Teufel und auch Gott selbst boten sich dem armen Mann an, doch dieser erwählte den Tod als Paten für sein Kind, weil allein dieser, so seine feste Meinung, alle Menschen gleich behandele. Gänzlich entzückt darüber, gegenüber dem Teufel und selbst Gott bevorzugt worden zu sein, zeigte der Tod aus Dank dem Kind ein Kraut, womit es zukünftig Menschen von jedweder Krankheit heilen könne, wenn er am Kopfende ihres Bettes stehen würde. Stünde er dagegen am Fußende, wäre der Kranke verloren und des Todes. Daran musste ich denken, als ich IHN an meinem Bett in der Mitte zwischen Kopf- und Fußende entspannt sitzen sehe.
In einem freundlichen, aber bestimmten Ton spricht er die folgenden Worte zu mir:
Ich habe nicht viel Zeit, habe sehr viel zu tun, wollte nur mal Hallo sagen. Unser letztes Treffen, vor 7 Jahren, als deine Frau in meinen Armen lag, ist mir nicht aus dem Kopf gegangen. Du wolltest mich ja schnellstens wieder loswerden, dabei bin ich dein Freund. Und weil ich dein Freund bin, gebe ich dir einen letzten, gutgemeinten Rat: Du musst dein Leben Ändern!
Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird, ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.
Das, was wir in bestimmten, schicksalhaften Momenten als ein „neues Leben“ bezeichnen, kann niemals losgelöst gedacht werden von seinen Wurzeln. Wir haben eine Geschichte, wir sind in Geschichten verstrickt und doch sind wir als Subjekt die Voraussetzung für die Art und Weise der Existenz unserer Welt. Von Ludwig Wittgenstein wissen wir, dass die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer Welt bedeuten. Er war sich sicher, dass es eine Beziehung gibt zwischen unserem Geist und der Welt. Unser Ich erzeugt gleichsam als unsere Wirklichkeit ein Abbild der Welt als unsere eigene. Hier haben wir eine mögliche Antwort auf die Frage, warum Menschen im Angesicht des Todes und anderer schicksalhafter Momente so unterschiedlich reagieren. Ich erkenne bei mir ein klares Muster, wie mein Geist gelernt hat, mit Verlust und Veränderung umzugehen. Ob es der Verlust meines Landes 1989 war oder der damit verbundene Verlust des gerade begonnenen beruflichen Weges, der Verlust meiner sicher geglaubten Führungsposition nach 13 Jahren oder der schmerzhafte und traumatische Abschied von meiner Frau, immer bin ich schnell, vielleicht zu schnell, aktiv geworden; habe aber dadurch auch neue Tatsachen geschaffen und die Dinge ins Rollen gebracht. In Karl Jaspers sehr empfehlenswertem Buch „Psychologie der Weltanschauungen“ spricht er über die unterschiedlichen Einstellungen, die wir Menschen haben können und die uns natürlich so unterschiedliche Wege einschlagen lassen. Ich habe mich gut beschrieben gefühlt in seiner Definition des akt iven Menschen. Er schreibt:
„Der aktive Mensch steht ganz in der zeitlich gegenwärtigen Situation. Er handelt in der Erfüllung der gegebenen, nicht einer erdachten oder phantastischen zeitlosen Situation, nicht in einer anderen fremden, sondern der konkret gegenwärtigen Welt. Er tut, was ihm objektiv möglich erscheint, und was er subjektiv kann. Die Welt erkennen, das heißt für den Kontemplativen, sie vor sich hinstellen, für den Aktiven, sie schaffen und machen, sie in eigener Tätigkeit verwandeln. Die Welt soll in der aktiven Einstellung so umgestaltet werden, dass der Aktive sie als seine Welt begreift. Von der aktiven Einstellung aus gilt auch für alles Erkennen, dass wir die Dinge nur insoweit erkennen, als wir sie machen können. In der aktiven Einstellung ist ein fortdauernder Dualismus. Der Wille findet Widerstand und Gegenwillen; es handelt sich um Kraft und Kampf. Er steht in vollem Gegensatz sowohl zu dem, der aus seiner fremden Welt her bedingungslos sein Ideal verwirklichen will (und dabei notwendig resultatlos umgestaltend zerschellt), wie zu dem, der resigniert die Hände in den Schoß legt und nur noch kontemplativ ist, weil ihm die Wirklichkeit der gegebenen Situation und das Ideal unvereinbare, beziehungslose Dinge sind. Für den Aktiven ist immer Bewegung. Er gibt sich nie mit einem Zustand zufrieden. Ihm gilt: „Alles ist provisorisch in der Welt.“ Der unendliche Fluss des wirklichen Geschehens schafft immer neue Situationen, die der Aktive momentan erfasst und ergreift, während der Kontemplative, der Denkende sie anschaut, berechnet und sie damit vorbeigehen lässt, um zu erfahren, dass eine Gelegenheit, nicht ergriffen, niemals wiederkehrt. Dem Aktiven ist dem Sinn seines Tuns gemäß der Erfolg wesentlich, der äußere Erfolg in der Weltgestaltung oder der innere Erfolg in dem gewonnenen Zustand der Seele bei der Selbstgestaltung.“
Die Menschheit beäugt nur jene argwöhnisch, die keine Ruhe in dem trivialen Dasein finden, mit dem sich alle übrigen zufrieden geben. (Nicolás Gómez Dávila)
Warum ist mir eigentlich die Idee, dass ich mein Leben „erneuern“ kann, so sympathisch? Was verbinde ich damit und welche Gefahren lauern? Das, im Prolog erwähnte Lied der Toten Hosen stammt aus dem Jahr 2004. Ich hatte eine Führungsposition inne, nach der ich lange gestrebt hatte. Ich war latent unzufrieden, fühlte mich fehl am Platze, hatte nicht den Freiraum, den ich mir wünschte und somit hörte ich auf dem Weg zur Arbeit den Punk der späten Toten Hosen. Der Start in den Song ist so umwerfend kraftvoll und treibend, und die ersten beiden Strophen entsprechen exakt meinem Lebensgefühl:
Ein Hoch auf den goldenen Westen, auf seine Werte und seinen Sieg. Doch wo ist eigentlich unsere Beute? Wo ist der Gewinn? Wir laufen grinsend durch die Straßen mit Händen, die gefesselt sind. Langes Leben, kurze Leine: Das ist das Prinzip! Wir sind erschöpft vom Warten. Vom Hoffen auf Veränderung. Verbringen unsere Zeit im Halbschlaf. Denken: Es ist besser so. Freiheit – ich lese deinen Namen an jeder Häuserwand. Freiheit – warum habe ich dich noch nie gesehen?
Die Bücher, die ich in diese Zeit der Unzufriedenheit las, zeigen meine Suchbewegungen ganz gut: „Die Verrückten werden siegen“, „Der kleine Meinungsführer: 60 mal Pro und Contra zu den wirklich wichtigen Dingen im Leben“, „Spinnen ist Pflicht“, „Die etwas gelassenere Art, sich durchzusetzen“, „Widerwort. Eine Verteidigung der Vernunft“, „Dein Job ist es frei zu sein“.
Ich musste meine Unzufriedenheit aktiv angehen und sondierte meine Wahlmöglichkeiten. Leider fand sich nichts Zufriedenstellendes, also kaufte ich mir eine Elektrogitarre und lernte Blues und Hardrock zu spielen. Obsessiv, jeden Tag, es wurde in dieser Zeit mein Rettungsanker und das Wichtigste waren Fortschritte beim Nachspielen meiner Idole von Gary Moore über BB King bis Led Zeppelin. Just for fun? Nein, eher als Medizin, man könnte es auch als Eskapismus bezeichnen. Interessant war, was dann passierte. 2006 lud ich zu meinem 45. Geburtstag meinen Chef und alle Führungskräfte zu einem kleinen Solokonzert ein. Ich spielte ca. 60 Minuten meine Lieblingssongs von Santanas „Black Magic Woman“ bis zu AC/DCs „Highway to Hell“. Alle waren überrascht. Sie kannten mich nur in meiner Rolle als Manager, der gelernt hatte, Distanz zu wahren und der gerne mal in Diskussionen den Finger in die Wunde legt. Man hat mich respektiert, so mancher war von mir irritiert, aber wir waren keine Freunde. Nach dem Konzert hat sich das Bild, was sich die anderen von mir gemacht hatten, geändert und auch ich selbst war viel lockerer geworden. Ich habe daraus gelernt, dass Veränderung sich nicht nur auf logischen und direkten Wegen erreichen lässt. Veränderung beginne ich am besten bei mir selbst. Die eigentliche Frage, die hinter meiner Unzufriedenheit aufschien, war: Wie bringe ich wieder mehr Freude, Lebendigkeit und Leichtigkeit in mein Leben? Jeder der mit Management-Büchern zum Thema Change zu tun hatte, kennt das Mantra zum Umgang mit Unzufriedenheit im Business: Du hast drei Möglichkeiten: Change it, love it, or leave it. Ich entdeckte also eine vierte Möglichkeit: Ignore it! Aber auch der folgende Spruch unbekannter Herkunft war fest verankert in meinem Geist: Lebe oder du wirst gelebt!
Wie ging es danach weiter? 2005 bekam ich im gleichen Unternehmen eine neue Aufgabe, wahrscheinlich war meine der Unzufriedenheit geschuldete Reaktanz und Halbherzigkeit nicht verborgen geblieben. 2006 wurde ich mit 45 das erste Mal Großvater. Elena war so ein bezauberndes und lebendiges Kind, welches, wie von Zauberhand, alle dunklen Gedanken hinwegfegte. Ein neues Leben begann, ganz von selbst, wie es schien. Der Grund für meine Unzufriedenheit und die angestoßenen Veränderungen war eine sich rasant entwickelnde Disbalance zwischen meiner Eigenart und meiner Umwelt. Jose Ortega y Gasset hat diesen Zusammenhang zwischen Charakter und Wirkungskreis sehr treffend wie folgt beschrieben:
„Jeder von uns ist zur Hälfte derjenige, der er ist, und trägt zur anderen Hälfte den Charakter seines Lebensumkreises. Fällt dieser mit unserer Eigenart auf förderliche Weise zusammen, so verwirklicht sich unsere Persönlichkeit voll und ganz, fühlt sich bekräftigt durch ihre Umwelt und angespornt zur Ausbreitung ihrer inneren Triebkraft. Wenn uns der Lebensumkreis feindlich gesinnt ist, zwingt er uns, da er sich ja in uns selber befindet, zu ständiger Auseinandersetzung und ständigem Ringen, indem er auf uns lastet und der Entfaltung und dem vollen Leistungsertrag unserer Persönlichkeit hindernd in den Weg tritt.“
Jeder Mensch reagiert auf die beschriebene „feindliche Gesinnung des Lebensumkreises“ unterschiedlich. Die zwei gegensätzlichen Pole sind: Der eine leidet still und spielt Theater, der andere greift zur Waffe und läuft Amok.
Der Gedanke beschäftigt mich, wie sich Menschen aus einer latenten Unzufriedenheit heraus dermaßen radikalisieren, dass sie zu aktiver Gewalt greifen. Zunächst verbal und dann real. Ein neues Leben als totaler Bruch mit dem bisherigen Leben. Wie kommt so etwas zustande? In der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 07. März finde ich die Rezension eines Romans über Gudrun Ensslin. Aktives, terroristisches Mitglied der RAF. Pfarrerstochter, gebildet, verblendet, Suizid in der Haft 1977 im Alter von 37 Jahren. Ich lese in der Rezension folgende interessante Gedanken zur Frage, wo die geistesgeschichtlichen Wurzeln eines offenbar immer noch aktuellen Phänomens liegen.
„Sie reichen tief hinab. Aus der hellenistischen Religiosität um 200 nach Christus stammt die „Gnosis“ (griechisch: Erkenntnis): ein verzweigtes und anpassungsfähiges Geflecht religiöser Anschauungen, denen die real existierende Welt als eine Art Todesstern gilt. Weltreiche, Reichtümer, Ruhm, Macht und Majestät sind Werke des „Demiurgen“, eines Fürsten der Finsternis, der die ganze Welt beherrscht. Die ganze? Nein! Es gibt noch die wenigen Reinen und Wissenden, deren Reich nicht von dieser Welt ist. Sie bewahren und entfachen in sich den Funken der Erinnerung an den reinen Ursprung der gefallenen („entfremdeten“) Realität, denn (und hier kommt ein Originaltext eines RAF-Mitglieds vom Mai 1982) es ging sieben Jahre lang darum, in dieser politischen Wüste, in der alles nur Schein, Ware, Verpackung, Lüge und Betrug ist, den Geist und die Moral,
die Praxis und die politische Orientierung des unwiderruflichen Bruchs und der Zerstörung des Systems hereinzubringen. Der Gedankensprung vom 2. ins 20. Jahrhundert ist nicht so tollkühn wie es scheint. Denn Motive der antiken Gnosis sind in vielen Formen politischer Weltablehnung seither durch die Zeit gereist, bis in unsere. Sie sind aufgetaucht bei den mittelalterlichen Katharinen, in der Revolutionstheologie von 1525, im Pietismus Friedrich Christoph Oettingers und Johann Albrecht Bengels, säkularisiert bei den Jakobinern, Kommunisten, Nazis. Und nicht zuletzt eben auch in den Kassibern der Terroristen, die von 1968 bis 1998 die Bundesrepublik an den Rand eines unerklärten Bürgerkriegs geschossen und gebombt haben.“
Ich stelle erschrocken fest, dass ich in einem Telefonat mit meiner Tochter neulich ganz ähnliche Begriffe zur Beschreibung unserer derzeitigen politischen Wirklichkeit gebraucht habe. Doch hier erkenne ich eine wichtige Aufgabe praktischer Philosophie, derer ich mich widmen will. Dinge gründlich durchdenken, die Weisheit der Worte wieder entdecken. Geistige Kraftquellen aufspüren und das Gespräch kultivieren. Ein neues Leben ermöglichen, welches aus einer geistigen Erstarrung herausführt. Eine Gegenkraft entwickeln als Immunreaktion auf die Zumutungen der Gegenwart und Zukunft.
Keine Erleichterung lässt sich mit der vergleichen, die wir empfinden, wenn wir auf unsere Ansprüche verzichten. So wie sich der Körper erholt, wenn wir ihn nicht mehr zwingen, die gehemmte, ernste oder steife Haltung zu bewahren, die ihm unangemessen ist, hinterlässt die Pflichtaufgabe, die wir uns auferlegt hatten, einen freien Raum, worin sich der Geist bequem bewegt, nachdem sich uns diese Aufgabe entzogen hatte. (Nicolás Gómez Dávila)
Ein neues Leben? Klingt für viele wahrscheinlich sehr anstrengend. Nicht immer finden wir die Kraft, die beste Version unserer Selbst zu sein. Und ich kenne einige Menschen, die mit meiner Eigenart, gern etwas Neues zu starten, nichts anfangen können. Ich bewundere geradezu denjenigen, der in jungen Jahren schon genau weiß, was aus ihm werden soll und der das dann auch wird und dabei bleibt bis zum Ende. Das konnte ich nie. Eines meiner Lieblingsmärchen als Kind war „Hans im Glück“, der nach sieben Jahren Dienst als Lohn einen Klumpen Gold erhielt, den er eintauschte gegen ein Pferd, das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans und die Gans gegen zwei große Wetzsteine. Diese beiden schweren Steine fielen in einen Brunnen, gerade als er fast zu Hause bei seiner Mutter angekommen war. Das Märchen schildert seine Reaktion wie folgt:
„Hans, als er sie mit seinen Augen in die Tiefe hatte versinken sehen, sprang vor Freuden auf, kniete dann nieder und dankte Gott mit Tränen in den Augen, daß er ihm auch diese Gnade noch erwiesen und ihn auf eine so gute Art, und ohne daß er sich einen Vorwurf zu machen brauchte, von den schweren Steinen befreit hätte, die ihm allein noch hinderlich gewesen wären. ‘So glücklich wie ich,’ rief er aus, ‘gibt es keinen Menschen unter der Sonne.’ Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.“
Frei von aller Last – klingt das nicht schön? Ich glaube, dass in mir ganz viel von diesem Hans steckt. Als ich 14 war, sollte ich eigentlich auf die KJS (Kinder- und Jugendsportschule) in Zella-Mehlis wechseln, eine Kaderschmiede für zukünftige Olympiasieger im Ringen und im Wintersport. Die obligatorische ärztliche Untersuchung sagte Nein zu diesem Plan. 15 Jahre später lautete der Plan Studium an der Parteihochschule beim ZK der SED, anschließend Promotion an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften und danach als Lebensaufgabe Lehrer im Lehrstuhl Politische Ökonomie. Der Weltgeist hatte etwas dagegen. Ich zog weiter und hielt mich nicht zu lange mit Trauer auf. Ich war jung, gesund und die Welt stand mir offen. Nächstes Ziel: Top-Management-Trainer werden. Nach 7 Jahren war Schluss, weil es ökonomisch ein Reinfall war und ich mich plötzlich in einem doktrinären Ideologiesystem mit fast sektenhaften Zügen wiederfand. Weiter ging es und weiter, immer weiter. Pantha rhei… Mein Anspruch war immer, ein gutes Leben im Einklang mit meinen Werten zu leben. Ich stelle fest, dass ich dazu weniger benötige, als früher gedacht. Ich brauche dazu nur Zeit. Zeit zum Lesen und Zeit zum Denken. Zeit, zu erkennen und Zeit, zu betrachten. Vielleicht brauche ich gar nicht so etwas wie ein „Neues Leben“. Was ich brauche, ist die Fähigkeit, meinem Leben von Zeit zu Zeit etwas zu geben, was in den Märchen und Mythen als Lebenselixier bezeichnet wird. Rüdiger Safranski drückte es in einem Gespräch mit Gerd im Deutschlandfunk von 2004, zum Thema: „Bei Liebeskummer Sokrates – Philosophen als Lebensberater“ so aus: „Es gibt ein Motto Philosophischer Praxis, das aus einem Zitat von Novalis stammt: Philosophieren ist Dephlegmatisieren, Vivifizieren. Das ist toll! Dephlegmatisieren ist sehr schön erfunden.“
Solange wir hier leben, bauen wir Tag für Tag an unserer Biographie. Wir vertrauen dem, was wir sehen, und wissen, was wir hören. Doch die Sehnsucht nach dem Unsichtbaren lässt uns nie los. Es gibt da etwas, was unseren Blick zum Horizont zieht, die Dinge zu hinterfragen und die verborgenen Tiefen auszuloten. Wir ahnen, dass die wahre Natur der Dinge tief in ihrem Inneren verborgen liegt. Wenn wir die Welt betreten, lassen wir uns auf der Schwelle zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren nieder. Diese Spannung erfüllt unser ganzes Leben mit Sehnsucht. Wir gehören weder ganz zum Sichtbaren noch ganz zum Unsichtbaren. Das schürt unsere Sehnsucht, unseren Hunger nach Zugehörigkeit immer wieder neu. Wir sind Künstler und Pilger zugleich, Wanderer zwischen den Welten.