Zufall oder Vorsehung?
Über Freiheit und Notwendigkeit
Über Freiheit und Notwendigkeit
Der folgende Essay beschäftigt sich mit der Frage, ob alles nur Zufall ist, was uns im Laufe des Lebens so passiert, oder ob es einen Plan gibt, dem wir zu folgen haben.
Joseph Campbell ist vielen von uns bekannt als derjenige, der herausfand, dass alle guten Geschichten die Form einer Heldenreise haben. Campbell versteht den Weg des Helden als Erzählung einer (an C. G. Jung angelehnten) Selbstwerdung eines Menschen. „Werde der du bist“. Diese vermeintlich einfache Lebensregel ist vermutlich die größte und komplexeste Lebensaufgabe der ich mich widmen kann.
„Denn wie kann ich überhaupt werden, was ich doch schon bin?“
Vielleicht haben mein Leben, meine Herkunft und meine Sozialisierung, meine Gespräche und Konflikte, haben Wünsche und Kommerz längst etwas aus mir gemacht, das ich gerade nicht bin? Sind Geschichte, Tradition, Familie, Gesellschaft, Vorbilder verschiedene Wege zu mir selbst, oder lenken sie mich von mir ab? Das führt zum Kern der Frage:
Wie unterscheide ich das, was ich tatsächlich bin, von dem, was andere von mir denken oder wollen, dass ich sei?
Campbell, der als Professor mit jungen Menschen arbeitete, gibt dazu den Rat, dass wir unserer Freude folgen sollen, das heißt, dahin zu gehen, wo unser Körper und unsere Seele hinwollen. Und wenn wir das richtige Gefühl haben, dürfen wir uns von keinem Menschen davon abbringen lassen.
Schon vor zweieinhalbtausend Jahren lasen die Pilger an einer Säule des Apollontempels im Orakel von Delphi die Aufforderung „Γνῶθι σεαυτόν“, „Erkenne dich selbst!“ Keine wichtige Entscheidung wurde damals getroffen, ohne Pythia, das Orakel, zu befragen. Man stellte eine wohlüberlegte Frage und bekam eine Antwort. Diese hatte es allerdings in sich.
Heraklit drückt es so aus:
„Der Gott von Delphi sagt nicht Ja oder Nein, sondern er deutet an.“
Denn alle Orakelsprüche der Pythia von Delphi waren, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, Rätsel, und zwar bewusst mehrdeutige. Das berühmteste Orakel: Kroisos, ein König aus der heutigen Türkei, möchte Krieg führen gegen die Meder, die späteren Perser. Sein Land wird durch den Fluss Halys begrenzt. So lässt er das Orakel fragen, ob er Krieg führen soll. Pythia antwortet:
„Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören.“
Kroisos interpretiert das so, dass er siegen wird. Er marschiert über den Fluss und verliert sein Reich, bis auf wenige Grenzfestungen. Von dort schickt er einen Brief nach Delphi: „Du, Apollon, bist ein trügerischer Gott!“ Pythias Antwort ist kurz, aber präzise:
„Lerne, klüger zu fragen!“
So steht also am Anfang meiner Reise die Frage danach, wer ich bin. Wenn ich dem Ruf des Abenteuers folge, werde ich es erfahren. Das Abenteuer führt mich Schritt für Schritt weg von meinem gewöhnlichen Alltagsleben. Wie in klassischen Abenteuergeschichten üblich, gilt es Kämpfe zu bestehen mit inneren und äußeren Ungeheuern, und am Ende habe ich mich verwandelt in den, der ich wirklich bin.
Campbell meinte, dass sich am Anfang ein Mysterium ereignet, welches die als selbstverständlich geglaubte Welt in Frage stellt. Das heißt, dass der Held in das Abenteuer gezwungen werden muss – und erst dann beginnt die Reise in eine höhere Realität. Doch welche Rolle spielt denn der Zufall dabei? In Campbells Buch „Die Kraft des Mythos“ finde ich den folgenden Satz:
„Der Zufall, oder was wie Zufall aussieht, ist das Mittel, durch welches das Leben sich verwirklicht.“
Dass ich existiere, ist dem Zufall zu verdanken, dass mein Vater und meine Mutter sich sieben Jahre nach dem letzten Weltkrieg auf dem Arbeitsweg nicht nur begegnet sind, sondern dass da irgendwie etwas war, das wieder sieben Jahre später dazu geführt hat, dass ich geboren wurde. Alles hätte auch anders sein können.
Ich habe einen Verdacht. Irgendwann in meiner Vergangenheit habe ich einen Vertrag mit dem Zufall unterzeichnet. Vermutlich ist das in meinen Träumen passiert, denn ich kann mich selten daran erinnern, was ich geträumt habe. Da ich das Glück habe, sehr tief schlafen zu können. Und die Wissenschaft sagt, dass jeder Mensch, der schläft, auch träumt.
„Mein lieber junger Freund, ich beobachte dich schon eine ganze Weile. Du warst immer ein fröhliches Kind, phantasievoll, wissbegierig und voller Tatendrang. Die Erwachsenen um dich herum, deine Lehrer, Eltern und das Land in dem du lebst, halten aber überhaupt nichts von Spontaneität. Alles soll immer planmäßig geschehen, wahrscheinlich weil sie Angst haben. Angst, etwas nicht unter Kontrolle zu haben. Klar, sie meinen es nur gut mit dir, aber es ist nicht gut für dich. Jeder Mensch ist eine einzigartige Mischung von unterschiedlichsten Ingredienzien. Das kannst du dir so vorstellen, wie wenn ein begnadeter Koch jedes Mal, wenn er ein Gericht oder einen Kuchen kreiert hat, das Rezept vergisst. Das bedeutet dann, dass jeder Kuchen anders sein wird, denn der Koch erfindet jedes Mal etwas Neues. So ungefähr ist das auch mit den Menschen. Kein Mensch wurde jemals als Kopie geschaffen. Bei Zwillingen ist zwar vieles identisch, aber nicht vollständig. Und aus dieser einzigartigen Mischung von Temperament, Intelligenz und vielen anderen Gewürzen entsteht ein komplexes Wesen, eine Persönlichkeit. Jede Persönlichkeit braucht Freiheit, aber das Maß an Freiheit, welches für den einen inspirierend und belebend ist, ist für den anderen beängstigend und deprimierend. Du bist nicht dafür geschaffen, ein geplantes, berechenbares und stabiles Leben zu führen. Das wäre sehr gefährlich für dich. Du könntest krank werden an deiner Seele. Deshalb möchte ich dir einen Kontrakt anbieten. Einen lebenslangen Kontrakt, der dich an viele unterschiedlichste Orte führen wird. Orte, die heute für dich hinter hohen Mauern liegen. Du wirst nicht immer wissen, wohin dich die plötzlichen Veränderungen in deinem Leben führen werden und manchmal wird es gefährlich sein und manchmal auch tragisch. Aber du wirst ein freies Leben führen und deine Spontaneität wird dich dahin bringen, wo der starke Puls des Lebens schlägt. Ich komme in einem der nächsten Träume zu Dir, damit wir den Vertrag gemeinsam unterschreiben können. Anbei der Vertragsentwurf. Hochachtungsvoll Dein Zufall.“
Ich habe vermutlich diesen Pakt mit dem Zufall unterschrieben. Ich verpflichtete mich dazu, mutig und spontan „Ja“ zu sagen, wann immer in meinem Leben plötzlich etwas Neues auftauchen sollte. Dafür bekam ich vom Zufall die Gabe, meine innere Stimme zu hören, die mir sagt, dass ich etwas nicht tun soll, wenn es unpassend für mich ist. Denn es gehört zum freien Leben, dass derjenige, der den Weg auf unbekanntes Territorium wagt, auch gefährliche Situationen überstehen muss.
Ich glaube, ein weiterer Punkt im Vertrag war, dass mir eine gewisse Leichtigkeit des Seins zugesichert wurde, wenn ich bereit wäre, dem Leben zu vertrauen und die Kontrolle abzugeben. Ich habe aber auch überhaupt kein Talent zur Verzweiflung. Mein Vertrag mit dem Zufall hat mir die Möglichkeit eröffnet, sehr viele unterschiedliche Erfahrungen zu sammeln.
Ich bin in den fast zweiundsechzig Lebensjahren vierzehn mal umgezogen, von der Kleinstadt im Erzgebirge über die sächsische Großstadt ins katholische Oberbayern und von dort in das tirolerische Bergdorf mit vierhundert Einwohnern. Ich bin mit einem weißen Fiat Uno bei Nebel und Schneeglätte kurz hinter dem Irschenberg fast auf einen Stau aufgeprallt und weiß seitdem, dass eine Leitplanke eine nützliche Einrichtung ist, auch wenn ich durch den Aufprall einen Totalschaden verursacht habe. Aber ich bin aus dem Auto raus und ohne jeglichen Kratzer mit dem Schrecken davongekommen.
Ich habe einen Beruf gelernt, den ich nie richtig ausgeübt habe. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich aber gutes Geld verdient mit Tätigkeiten und in Rollen, für die ich zum Start keine passende Ausbildung mitbrachte. Immer gab es aber jemanden, der glaubte, ich kann das. Und ja, ich liebe es, etwas Neues zu beginnen, weil ich dem Leben vertraue. Weil ich neugierig bin.
Letztes Jahr habe ich in einem Geschäft im Flughafen von Palma de Mallorca eine bedruckte Einkaufstasche entdeckt auf der stand:
„Das Leben ist viel aufregender, wenn du etwas Neues anfängst, ohne dafür bereit zu sein.“
Das könnte tatsächlich der Buchtitel für mein Leben sein. Vierzehn Tage nach dem Bau der Mauer habe ich das Licht der Welt erblickt, zufälligerweise auf der „falschen“ Seite der Mauer, in der DDR. Zumindest könnte man das so sehen, aber es war natürlich nicht so eindeutig zu entscheiden, aber heute weiß ich, dass es ein Glücksfall war.
Geheiratet mit achtzehn, Vater geworden mit neunzehn, Großvater mit fünfundvierzig, beruflicher Neu-Start als Verkäufer von Management-Seminaren noch in der DDR bevor die Deutsche Einheit besiegelt wurde, Verkaufstrainer und Unternehmensberater mit überwiegend ostdeutscher Lebensgeschichte.
Habe ich einfach Glück gehabt?
Das wäre eine allzu positive Beschreibung und hätte gar nichts mit einer Heldenreise gemeinsam. Da wir in einer dualen Welt leben, führen alle Entscheidungen sowohl zu positiven als auch negativen Resultaten. Das Leben ist nicht nur aufregend, wenn ich etwas Neues anfange, es ist auch anstrengend, nervig, frustrierend und manchmal deprimierend. Und da ich nicht allein bin, haben natürlich alle Entscheidungen Auswirkungen auf die Menschen, die mir wirklich etwas bedeuten.
Ich bin sehr vorsichtig geworden, aus meiner individuellen Lebensgeschichte irgendeinen allgemeinen Ratschlag für jedermann abzuleiten, außer vielleicht den einen:
„Verpasse nicht den richtigen Moment!“
Schon die alten Griechen wussten, es gibt im Leben nicht nur die tickende, quantitativ messbare Zeit, sondern auch die qualitative Zeit. Chronos versinnbildlicht den Ablauf der Zeit sowie die Lebenszeit. Der für den Zusammenhang von Zufall, Fügung und Glück wichtigere Zeitgott ist Kairos. Kairos (καιρός) ist der launische Gott der Gelegenheit. Bis heute ist er für uns lebendig, wenn wir „eine Gelegenheit beim Schopfe packen“, denn der junge Gott hat zwar viele Haare an der Stirn, doch sein Hinterkopf ist kahl. Kairos rennt auf geflügelten Füßen an uns vorbei und mahnt uns, die Chancen in unserem Leben beizeiten zu ergreifen.
Von Anfang an ist die Welt ein chaotischer Ort. In der Natur entstanden aus dem Chaos krank erscheinende Mutationen und aus diesen neue, lebensfähige Arten. Ist in der Natur nicht vielleicht doch eine Kraft am Werk, die im ständigen Kampf gegen das Chaos Ordnung schafft?
Das größte Abenteuer ist das Abenteuer, lebendig zu sein. Was bedeutet das? Jose Ortega y Gasset schrieb, dass wir unser Leben vergleichen können mit einer Situation in der man uns nach tiefem Schlaf plötzlich aufweckt. Wir befinden uns hinter den Kulissen einer Theaterbühne und stehen am Vorhang, bereit vor das Publikum zu treten, welches wir schon murmeln hören. Plötzlich stößt uns jemand nach vorn durch den Vorhang und finden uns in der heiklen Situation wieder, ohne zu wissen, welches Stück gespielt wird.
„Das Leben wird uns gegeben – besser gesagt, es wird uns zugeworfen, oder wir werden ins Leben hineingeworfen; jedoch, was uns gegeben wird, nämlich das Leben, ist ein Problem, das wir selber lösen müssen.“
Wir müssen das Handwerk der Freiheit lernen. An jedem neuen Tag.