Meister Wittgenstein
Annäherung an ein Genie
Annäherung an ein Genie
Das Erste, was ich von Ludwig Wittgenstein lese, ist sein Vorwort und den Beginn seines “Tractatus logico-philosophicus”. Meine innere Reaktion ist eine Mischung aus Widerstand und Faszination. Mein Widerstand meldet sich sofort, als ich realisiere, dass ein junger Mann mit Ende zwanzig schreibt, dass er glaube, alle philosophischen Probleme „im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben.“ Aber Moment: Der nächste Satz macht mich wirklich neugierig: „Und wenn ich mich nicht irre, so besteht nun der Wert dieser Arbeit darin, dass sie zeigt, wie wenig damit getan ist, dass diese Probleme gelöst sind.“ Worauf will er da eigentlich hinaus?
Ich gebe zu, dass ich seinen Tractatus nicht vollständig gelesen habe. Ich verstehe viele Dinge seines Hauptwerkes nicht und bin damit in guter und prominenter Gesellschaft, wie ich aus seiner Biographie erfahre. Aber beim Durchblättern bleibe ich an bestimmten Stellen hängen. Vor allem, wenn er aphoristisch schreibt, möchte ich verweilen und darüber nachdenken. Die letzte Seite des Tractatus ist von einer Tiefe und Schönheit, die mich fesselt und ich verstehe, warum der letzte Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ so oft zitiert wird. Wittgenstein selbst hätte wahrscheinlich die Form, in der ich ihn jetzt zitiere, vehement missbilligt, denn ich ignoriere bewusst die Logik und Ordnung der zugehörigen Zahlen und lese die letzte Seite seines Hauptwerkes wie einen Brief, den Wittgenstein an mich persönlich schreibt:
„Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. (Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand?) Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische. Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, dass er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend – er hätte nicht das Gefühl, dass wir ihn Philosophie lehrten – aber sie wäre die einzig richtige. Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“
Der junge Wittgenstein scheint innerlich schon in jungen Jahren an jenem Punkt angekommen zu sein, an dem Faust sich befand, als er in der Studierstube kurz vor dem Osterfest der Verzweiflung und dem Selbstmord nahe war. So viel studiert, um zu erkennen, dass „wir nichts wissen können.“
Bilde mir nicht ein, was Rechts zu wissen,
Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren,
Die Menschen zu bessern und zu bekehren.
Auch hab ich weder Gut noch Geld,
Noch Ehr und Herrlichkeit der Welt;
Es möchte kein Hund so länger leben!
Drum hab ich mich der Magie ergeben,
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
Nicht manch Geheimnis würde kund;
Daß ich nicht mehr mit saurem Schweiß
Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;
Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau alle Wirkenskraft und Samen,
Und tu nicht mehr in Worten kramen.
Wittgenstein und Faust kramen beide in Worten und sie sind beide Grenzgänger. Beide suchen nach der Ordnung, „die die Welt im Innersten zusammenhält“, und sind bereit, aufs Ganze zu gehen. Über Fausts Jugend und Herkunft hat uns Goethe im Unklaren gelassen. Umso mehr wissen wir von Wittgenstein. Ein Junge, gesegnet mit technischen, mathematischen und künstlerischen Talenten, wächst als jüngstes Kind seines Vaters Karl Wittgenstein auf, der später einer der reichsten Industriemagnaten Österreichs sein wird. Karl war vom Gymnasium wegen eines unbotmäßigen Aufsatzes geflogen und hatte sich in Amerika mit falschem Pass als Kellner, Musiker, Barkeeper und Parkwächter durchgeschlagen. Nach Österreich zurückgekehrt, studierte er Maschinenbau, schloss das Studium aber nicht ab. Obwohl er ein Faible für die schönen Künste hatte, kamen für ihn als Berufe für seine Söhne nur Kaufmann oder Techniker in Frage. Ludwig schreibt sich folgerichtig 1906 nach bestandener Matura an der Technischen Hochschule Berlin Charlottenburg ein. Hier macht sich zum ersten Mal auch sein Interesse für die Philosophie nachhaltig bemerkbar. Wittgensteins Schwester Hermine erzählt in ihren „Familienerinnerungen“:
„Zu dieser Zeit oder etwas später ergriff ihn plötzlich die Philosophie, d. h. das Nachdenken über philosophische Probleme, so stark und völlig gegen seinen Willen, daß er schwer unter der doppelten und widerstreitenden inneren Berufung litt und sich wie zerspalten vorkam. Es war eine von den Wandlungen, deren er noch mehrere in seinem Leben durchmachen sollte, über ihn gekommen und durchschüttelte sein ganzes Wesen . . . Ludwig befand sich in diesen Tagen fortwährend in einer unbeschreiblichen, fast krankhaften Aufregung.“
Was mich fasziniert an Wittgenstein ist die Einheit zwischen Denken und Leben. Und seine Fähigkeit und sein Mut, weiter zu gehen. An die Grenze zu gehen, bis es weh tut. Auch wenn mir sein ethischer Totalitarismus, so die Beschreibung eines engen Freundes, fremd und ein wenig unangenehm ist. Wenn ich mich mit Ludwig Wittgenstein vergleiche, fällt mir unwillkürlich der Aphorismus von Nicolás Gómez Dávila ein, der meinte, dass wir Menschen in unserer Mehrheit nur Probeexemplare und bloße Versuche seien. Wittgensteins Entscheidung, nach Rückkehr aus dem Krieg und Erscheinen des Tractatus sein gesamtes, beträchtliches Vermögen zu verschenken und als Volksschullehrer in Trattenbach, einem Dorf in der sogenannten „Buckligen Welt“ zu arbeiten, erinnert mich an Jesus. Ich lese über Ostern Leo Tolstois „Kurze Darlegung des Evangeliums“, und meine, einen möglichen Grund für diese radikale Entscheidung zu finden. Das geistige Leben sei das echte Leben, meint Tolstoi, und es kann nicht durch Ereignisse in der Außenwelt beeinflusst werden. Wittgenstein notiert im September 1914:
„Immer wieder sage ich mir im Geiste die Worte Tolstois vor: ‚Der Mensch ist ohnmächtig im Fleische, aber frei durch den Geist.“ Und etwas später: „In den Zeiten des äußeren Wohlergehens denken wir nicht an die Ohnmacht des Fleisches; denkt man aber an die Zeiten der Not, dann kommt sie einem zum Bewusstsein. Und man wendet sich zum Geist.“
Wie Wittgenstein bin ich lange überzeugter Atheist gewesen. Wie er interessiere ich mich mehr und mehr für religiöse Themen. Sein Denkweg ist ein Weg, auf dem ich versuchen kann zu gehen. Er beginnt für mich bei der Erkenntnis, dass jenseits der Grenze meiner Sprache nicht NICHTS ist, sondern das Wunderbare, Wichtige und Interessante auf mich wartet. Wittgensteins Kardinalsätze 1 und 3 des Tractatus: „1. Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ und „3. Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke.“ erinnern mich zunächst an eine grundsätzliche Aussage von Karl Marx aus dem Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ Und ich denke darüber nach, was mich so fasziniert hat am Gedankengebäude des Marxismus. War es nicht diese zwingende Logik und die Gewissheit, die Gesetze der Geschichte auf unserer Seite zu haben, so wie religiöse Menschen die Gewissheit haben, Gott auf ihrer Seite zu haben? Wittgensteins Grundidee war zunächst, dass die Sprache ein Abbild der Wirklichkeit sei. Während er diesem Gedanken im Tractatus und im Leben folgt und tiefer und tiefer gräbt, kommt er am Ende zum Mystischen. Beispielhaft das Urteil, dass der Sinn der Welt außerhalb ihrer liegen muss, vielleicht stark beeinflusst vom Erlebnis des Krieges und seiner Begegnung mit Tolstois „Darlegung der Evangelien“. Wittgenstein bringt mich insbesondere mit dem, was er im Tractatus ab Punkt 6.4. schreibt, zum Nachdenken und Träumen:
„Wenn das gute oder böse Wollen die Welt ändert, so kann es nur Grenzen der Welt ändern, nicht die Tatsachen; nicht das, was durch die Sprache ausgedrückt werden kann. Kurz, die Welt muss dann dadurch überhaupt eine andere werden. Sie muss sozusagen als Ganzes abnehmen oder zunehmen. Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen. Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht. Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unziemlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt. Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist.“
Über jeden dieser Sätze möchte ich lange nachdenken. Dass ein Mensch aus Fleisch und Blut diese Art von Gedanken haben kann und unsere Sprache in der Lage ist, sie auszudrücken – das ist für mich ein wahres Wunder. Und Wittgenstein meinte, dass man Philosophie eigentlich dichten müsste. Warum? Ich finde eine Erklärung in einem Gedicht von Giuseppe Ungaretti. Es hat nur zwei Zeilen und heißt „Eterno“, also „Ewig“:
„Zwischen einer gepflückten Blume und der andern geschenkten /
Das unausdrückbare Nichts.“
Wittgenstein selbst schreibt dazu in seinen Philosophischen Untersuchungen: „Ich mag den echten Blick der Liebe erkennen, ihn vom verstellten unterscheiden…Aber ich mag gänzlich unfähig sein, den Unterschied zu beschreiben.“ Die Logik stößt an eine unüberwindliche Barriere. Mir fallen andere Gedichte ein, die etwas in mir verursachen, was ich nicht beschreiben kann. Und ich kann nicht darüber sprechen, warum ich dieses Gefühl habe. Musik, Poesie, ein Aphorismus oder ein bestimmter Ausdruck auf einem Gesicht – alles kann mich erschüttern, berühren, verändern. In Wittgensteins Bemerkungen über Glauben und Religion bleibe ich an drei Fragen hängen, die er 1931 niedergeschrieben hat:
„Welches Gefühl hätten wir, wenn wir nicht von Christus gehört hätten?
Hätten wir das Gefühl der Dunkelheit und Verlassenheit?
Haben wir es nur insofern nicht als es ein Kind nicht hat, wenn es weiß, dass jemand mit ihm im Zimmer ist?“
Ich verstehe, dass es Fragen gibt, die nicht dazu da sind, beantwortet zu werden, sondern deren Aufgabe es ist, wie ein Mikroskop oder Fernrohr, etwas sichtbar zu machen. Wie armselig kommt mir plötzlich meine in der Schulzeit erworbene, materialistische und atheistische Weltanschauung vor. Und ich war mir ihrer so sicher. Der real existierende Sozialismus und sein Antipode, die freie und soziale Marktwirtschaft sind sich ähnlicher, als man gemeinhin denkt. Beide legen durch Naturwissenschaften, marxistische Soziologie und Verhaltenspsychologie die Welt auf eine Weise aus, dass das Ergebnis eine rein mechanistische Maschinenwelt ist, mit dem Menschen als berechenbare Reiz-Reaktions-Maschine. Unsere Welt scheint mehr und mehr von allen geistigen Werten verlassen. Ich habe die Befürchtung, dass wir vergessen könnten, was es bedeutet, Mensch zu sein. Dann finden wir uns wieder, verwickelt in eine endlose Ich-Schleife, indoktriniert von den von uns geschaffenen neuen Göttern der künstlichen Intelligenz, die alles Wissen haben über unsere Spezies und unsere Schwachpunkte.
Am Ende seines Lebens war sich Wittgenstein sicher, dass man nicht zum Höheren kommt, indem man eine Leiter benutzt. Es gibt keine To-Do-Liste zu Erleuchtung und Seelenfrieden. 1947 schrieb er die folgenden Bemerkungen über Glauben und Religion:
„Die apokalyptische Ansicht der Welt ist eigentlich die, dass sich die Dinge nicht wiederholen. Es ist z.B. nicht unsinnig, zu glauben, dass das wissenschaftliche und technische Zeitalter der Anfang vom Ende der Menschheit ist; dass die Idee vom großen Fortschritt eine Verblendung ist, wie auch von der endlichen Erkenntnis der Wahrheit; dass an der wissenschaftlichen Erkenntnis nichts Gutes oder Wünschenswertes ist und dass die Menschheit, die nach ihr strebt, in eine Falle läuft. Es ist durchaus nicht klar, dass dies nicht so ist.“
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