Die verirrte Pistolenkugel
und die Metamorphosen eines Zweikämpfers
Die Geschichte der Garnisonsstadt Döbeln beginnt 1887. Das Königreich Sachsen rüstet militärisch auf und versucht gleichermaßen durch Truppenstationierungen aufstrebende Städte in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zu unterstützen. Eine Garnison am Ort bedeutet für die jeweilige Stadt viele Vorteile. So ist der Tag des Truppeneinzugs in Döbeln ein Freudenfest. Das neu gegründete Elfte Infanterieregiment Einhundertneununddreißig wird die Stadt und ihre Geschichte prägen. Einhundert Jahre später ist Schluss. Nach dem Ende der DDR endet auch die Armeegeschichte in Döbeln. Auf dem Motiv einer Ansichtskarte ist die Kaserne in Döbeln zu sehen. Wahrscheinlich befinden wir uns im ersten Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts. Im zweiten Haus von links werde ich zirka vierundachtzig Jahre später die Dienstpistole des Oberfähnrich Müller in die Hand nehmen und abfeuern. Es wird das erste und letzte Mal in meinem Leben sein, dass ich mit einer Handfeuerwaffe schieße. Ich hatte mir das auch anders vorgestellt, aber dazu später. Dieser Essay handelt nicht nur von Waffen und welche Rolle sie im Leben eines Mannes in der Geschichte der Menschheit und in meiner eigenen Geschichte spielten.
Alles geschieht in totaler Eile, denn der Oberfähnrich, der vom Wachdienst kommt, will schnell nach Hause zu seiner Frau und den Kindern. Es gibt für die Übergabe von Waffen in jeder Armee klare Regeln. Regel Nummer eins für denjenigen der eine Waffe übergeben bekommt: Jede Schusswaffe ist grundsätzlich und immer als geladen zu betrachten! Regel für jeden der eine Waffe übergibt: Die Waffe wird ohne Magazin und im ungeladenen und gesicherten Zustand übergeben. Zwei klare, einfache Regeln werden gleich aus nicht nachvollziehbaren Gründen von zwei erfahrenen Soldaten missachtet werden. Es ist gerade ziemlich viel los, denn es ist nach Dienstschluss und der langgezogene Flur ist voller Menschen. Ich stehe im dritten Haus von links, hinter der zweiten Fensterreihe (siehe Postkartenfoto) und habe die gerade abgefeuerte Armeepistole „Makarov“ in der rechten Hand. Der durch das Echo der alten, hohen Räume verstärkte Knall des soeben von mir versehentlich abgegebenen Pistolenschusses hält die Zeit an. Die sechs Gramm schwere Pistolenkugel beschleunigt auf die Startgeschwindigkeit von dreihundert Metern pro Sekunde. Es herrscht plötzlich eine gespenstische Ruhe in der Kaserne. Mir ist schlecht. Bin ich ein Killer aus Versehen? Werde ich in die Geschichte eingehen als der Unglücksvogel, der sich und andere durch Unachtsamkeit ins Unglück stürzte? Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt und habe zu Hause eine Ehefrau und eine dreijährige Tochter, die nichts von alledem ahnen. Werde ich degradiert und in Unehren entlassen, um danach im Gefängnis die nächsten fünfzehn Jahre zu verbringen?
Nach zwanzig Minuten ist klar, dass die Kugel im Kasernengebäude gegenüber nur die Toilettentür „getötet“ hat. Puh! Ich bin erleichtert. Mein Körper noch nicht. Jemand spricht mir gut zu und ich setze mich, bis mein Puls wieder im zweistelligen Bereich ist. An die konkreten Ereignisse danach kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Habe ich danach gut geschlafen? Keine Ahnung! Zurück zu den Fakten: Zirka zwanzig Tage später nach gründlicher Untersuchung des Vorfalls, wird auf dem Appellplatz auf dem die Neunmillimeter-Kugel aufschlug, um ihr finales Ziel zu erreichen, der Oberfähnrich zum Fähnrich degradiert und ich bekomme wie durch ein Wunder nur eine Rüge. In diesem Moment glaube ich das erste Mal in meinem Leben, dass es Schutzengel gibt. So muss sich vor hundert Jahren der unversehrte Teilnehmer eines Duells gefühlt haben. Ich lebe noch, niemand wurde getötet, ich habe meine Ehre nicht verloren. In vergangenen Zeiten war es den meisten Offizieren nicht genug, sich mit gewöhnlichen Waffen zu duellieren – nein, man nahm besonderer Duellpistolen dafür. Diese wurden als “Zwillingspistolen” nur von den besten Büchsenmachern angefertigt und in einem umwerfend schönen Etui geliefert. Zwei identische, einläufige und brünierte Pistolen aus edlem Holz waren die wertvollen Waffen der Wahl. Der Pistolenlauf war üblicherweise nicht gezogen. Man wollte damit verhindern, dass es beim Schusswechsel zu größeren Schäden kommen möge. Interessanterweise kommt unser umgangssprachlicher Ausdruck „ungezogen” von dieser speziellen Konstruktionsweise der Duellpistolen. Die Gefahr für die Sekundanten war dann allerdings, aufgrund der Unberechenbarkeit des Geschosses, höher als für die Schützen.
Vor dem Duell wurden die Pistolen von den Sekundanten geladen und den Kontrahenten überreicht. Jeder der Beteiligten wählte sich eine der Zwillingswaffen aus, ohne dass der Sekundant wusste, für wen er die Waffe lädt. Unabhängig davon, ob ein Duell mit blanken Waffen oder mit Pistolen ausgetragen wurde, galten strenge und fest vorgegebene Regeln. Obwohl diese Regeln schriftlich fixiert waren, gehörte es zur Allgemeinbildung jedes Adeligen oder Offiziers, diese Regeln zu kennen. Auch korporierte Studenten wurden mit diesen Regeln vertraut gemacht.
Wir betrachten diese Duell-Regeln heute als Relikte einer untergegangenen Epoche, die jedoch noch gar nicht so lange hinter uns liegt. Bis in das frühe zwanzigste Jahrhundert war „Ehre“ das wertvollste, was ein edler Mensch, z.B. ein Adliger haben konnte und „Schande“ ein Grund sich selbst das Leben zu nehmen. Eine interessante Geschichte dazu finden wir im Roman „Lasalle“ von Stefan Heym.
Stefan Heym war Schriftsteller, Antifaschist, DDR-Dissident und wurde in seiner Jugend wegen eines antimilitaristischen Gedichts von jenem Gymnasium verwiesen, in dem ich später auch Schüler war. Er schreibt: „Die Erde dampfte. Die Baumkronen, deren Blätter im Morgenwind flüsterten, hoben sich wie gestochen von dem fahlen Licht ab. Lassalle vernahm das ferne Schnauben der Pferde und das gelegentliche Knacken eines toten Zweiges unter dem Stiefel. Und in diesem Moment sprang ihn die Angst an, die er bisher so sorgfältig vor sich selbst verborgen hatte. Was hatte er hier zu suchen, ein gebildeter Mensch, mit gewaltigen politischen Aufgaben, die es zu erfüllen galt, hier im Wald, drauf und dran, einer Kugel als Zielscheibe zu dienen. Achtung die Herren, zehn Schritte, eins, zwei, drei…‘ Schuss. Ein wilder Schmerz durchzuckte ihn von der Leiste bis zur Schläfe. Er drückte blindlings ab, tat zwei Schritte nach links und brach zusammen.“ Ferdinand Lasalle, Philosoph und Arbeiterführer starb drei Tage nach dem Duell, am 31. August 1864, mit 39 Jahren. Und worum war es gegangen: um eine Frau, selbstverständlich. Das 19. Jahrhundert war eine Hoch-Zeit der ritualisierten Zweikämpfe zur „Wiederherstellung einer verletzten Ehre“. Duellieren durfte sich nur, wer durch das Recht zum Waffentragen als satisfaktionsfähig galt, also Adlige, Offiziere und Studenten.
Das entspricht dem eigentlichen Ehrbegriff der feudalen Gesellschaft:
In der ständischen Gesellschaft hat jeder Stand seine Ehre, wenn man Handwerker ist, hat man Handwerker-Ehre, wenn man Adliger ist adlige Ehre, Bauern bäuerliche Ehre, oder es gibt die Ehrlosen, die gar keine Ehre haben oder nur eine Räuber-Ehre und Ähnliches mehr, in der Frühneuzeit, im Rahmen der ständischen Ehre, hat Ehre dazu gedient, Gesellschaft zu stabilisieren“, sagt der Historiker Winfried Speitkamp in einem Podcast mit dem Titel „Der schwierige Begriff der Ehre.
In der Geschichte gibt es viele heldenhafte Zweikämpfe. Wir alle kennen den ungleichen Kampf Davids gegen Goliath aus der biblischen Geschichte oder aus dem trojanischen Krieg das Duell zwischen dem fast unverwundbaren griechischen Halbgott Achill und dem trojanischen Held Hektor.
Schwerter, Säbel und Pistolen und der Zweikampf des guten Helden gegen den Bösewicht; das übte auf mich als Kind eine gewaltige Faszination aus. Ich las die klassischen Sagen des Altertums von Gustav Schwab, voll von Helden, Ungeheuern und tödlichen Kämpfen. Ich spielte diese und andere Zweikämpfe nicht nur nach, sondern verkörperte sie. Karneval, bei uns in Sachsen heißt es Fasching, wurde von mir als Kind herbeigesehnt, nicht wegen der Süßigkeiten, sondern wegen der Möglichkeit, mich in einen, natürlich bewaffneten Helden aus Büchern und Filmen zu verwandeln. Das interessanteste an diesen waren ihre Duelle Gut gegen Böse. Dabei benutzte ich selbstgebastelte oder imaginierte Waffen, träumte aber natürlich von einem echten Trommelrevolver oder einer Winchester 73. Die Erwachsenen in meiner Straße kannten mich draußen auch außerhalb der Faschingszeit nur mit Waffen und fragten erstaunt, wo denn mein Schwert geblieben sei, wenn sie mich tatsächlich mal freihändig herumstreifen sahen. Nun, jede Heldenreise beinhaltet schwierige Entscheidungen. In meinem Fall war es die Entscheidung zwischen Kämpfer oder Künstler und das kam so:
Niemand spielte bei uns zu Hause ein Instrument, jedoch hatten wir eine klassische Gitarre auf dem Dachboden, ein Erbstück, so glaube ich mich zu erinnern. Diese Gitarre war fast genauso faszinierend wie der Umgang mit Spielzeugpistolen und Plastikdegen. Ich spielte auf dem schönen Instrument allerdings nur unschöne Töne deshalb kam die rettende Idee auf, ich sollte doch bitte Unterrichtsstunden bei einem Gitarrenlehrer nehmen. Nun gab es aber in unserer Familie eine andere, lange Tradition. Meine Mutter stammte aus einer Ringer-Dynastie. Mein Bruder war folgerichtig schon früh ein erfolgreicher Ringkämpfer und mein Onkel sogar Kandidat für die Teilnahme an den Olympischen Spielen 1968. Mein Großvater war Mitglied im Ring- und Stemmklub Eichenkranz und Vizemeister der Landesmeisterschaften Neunzehnhundertneunundvierzig. Bei ihm zu Hause in der Waldstraße Nummer Sieben hing ein faszinierendes Foto seines Ringer-Vereins mit lauter schnauzbärtigen Muskelmännern, die ernst in die Kamera blickten und etwas seltsame Trikots trugen. Am liebsten hätte ich mich für beides entschieden: Gitarre und Ringkampf im griechisch-römischen Stil. Meine Eltern sorgten sich aber um meine schulischen Erfolge und befürchteten eine zeitliche Überforderung, also stand ich vor der entscheidenden Frage, ob ich Olympiasieger oder Musiker werden soll. Hätte ich damals gewusst, dass Apollon der Gott der Künste, der Musik und des Bogenschießens ist und somit beide Richtungen in einer Person vereinte, hätte ich mich mit meiner Argumentation leichter getan. So reihte ich mich also in die Familientradition ein und wurde ein erfolgreicher Ringkämpfer mit vielen Medaillen und dem Traum, ganz nach oben zu kommen. Beim Ringen stehe ich meinem Kontrahenten, der ungefähr gleich schwer ist wie ich auf einer quadratischen Matte gegenüber.
Der Mann in Weiß neben uns heißt Kampfrichter. Sobald der Pfiff ertönt, habe ich nur ein Ziel: Meinen Gegner auf das Kreuz zu legen. Dabei darf ich im klassischen Stil nur bis zur Gürtellinie Griffe anwenden. Beine stellen ist verboten. Interessanterweise haben wir in der deutschen Sprache einige Begriffe aus dem Ringen übernommen. Die zwei wichtigsten sind „Angriff“ und „Niederlage“. Der Angriff ist auf der Matte der Versuch, den Gegner mit einem gut sitzenden (Ringer-) Griff zu Boden zu bringen und die Niederlage ist vollendet, wenn er mit beiden Schulterblättern gleichzeitig die Matte berührt, also salopp gesagt, daniederliegt. Zwischen meinem sechsten und vierzehnten Lebensjahr lernte ich Woche für Woche einem Gegner gegenüber zu stehen und im fairen Wettstreit meine Kräfte mit ihm zu messen. Bis zu drei Mal Training pro Woche und am Wochenende der Wettkampf. Ich war Kreismeister, Bezirksmeister, um dann bei den Landesmeisterschaften das erste Mal einem Kämpfer gegenüber zu stehen, wo ich nach wenigen Sekunden merkte, der ist mir überlegen. Hier habe ich keine Chance. Ich verlor also gegen den Champion und wurde sechster. Der Leistungssport, aber vor allem der Kampfsport Mann gegen Mann hat mich nicht nur körperlich, sondern vor allem mental gestärkt.
Zurück zum Zweikampf zur Entscheidung von Streitigkeiten. Wir kennen zahlreiche Geschichten, in der in einer kriegerischen Auseinandersetzung ein Zweikampf eine Massenschlacht ersetzen sollte. Daher stammt der Begriff Vorkämpfer, den wir heute in weniger kriegerischem Zusammenhängen verwenden. David war im Kampf gegen Goliath der Vorkämpfer des Philister-Heeres. Diese Vorkämpfer waren sorgfältig ausgewählte Zweikämpfer, die die stärksten und tapfersten waren, oder die Anführer der jeweiligen Armeen. In allen großen Helden-Epen unseres Kulturkreises, ob nun im Nibelungenlied, oder der Artus-Sage nehmen Schilderungen des Zweikampfes einen breiten Raum ein.
Heute donnern die Kanonen wieder nur unweit von uns entfernt. Wir sind aus allen pazifistischen Träumen gerissen worden. Unsere Illusionen von einer Zukunft ohne Waffen und Armeen sind zerschmettert worden von einem System, wie es sich George Orwell nicht schlimmer hätte ausmalen können. Als vor kurzem zwei bekannte deutsche Prominente dazu aufgerufen hatten, die Lieferung von Waffen an die Ukraine zu beenden, hatte ich sofort das Gedicht von Wilhelm Busch in meinem Kopf, welches wir in der Schule gelernt hatten. Es heißt „Bewaffneter Friede“ und geht so:
Ganz unverhofft auf einem Hügel
sind sich begegnet Fuchs und Igel.
Halt! rief der Fuchs, du Bösewicht!
Kennst du des Königs Order nicht!
Ist nicht der Friede längst verkündigt,
Und weißt du nicht, daß jeder sündigt,
der immer noch gerüstet geht!
Im Namen seiner Majestät,
komm her und übergib dein Fell!
Der Igel sprach: Nur nicht so schnell,
nur nicht so schnell!
Laß dir erst deine Zähne brechen,
dann wollen wir uns weitersprechen.
Und also bald macht er sich rund,
zeigt seinen dichten Stachelbund
und trotzt getrost der ganzen Welt,
bewaffnet, doch als Friedensheld.
Vielleicht werden wir irgendwann als Menschheit genug davon haben, dass das Blut Tausender Menschen vergossen wird auf den Schlachtfeldern der Ideologien. Ich wünsche das für meine Enkelkinder und deren Enkelkinder und weiß doch, dass mich diese Wünsche verbinden mit allen meinen Vorfahren, denn die Existenz von Kriegen ist eine konstante Erfahrung, über die Jahrhunderte. Unser berühmter Philosoph Immanuel Kant schrieb siebzehnhundertfünfundneunzig einen Entwurf, wie die lange Gewaltgeschichte des Menschen beendet werden kann. In „Zum ewigen Frieden“ analysierte er glasklar die menschliche Unzulänglichkeit. „Der Krieg selbst“, schreibt Kant, „bedarf keines besonderen Bewegungsgrundes, sondern scheint auf die menschliche Natur gepfropft zu sein.“ Kant spricht von der „Bösartigkeit der menschlichen Natur, die sich im freien Verhältnis der Völker unverhohlen blicken lässt“. „Der Friedenszustand unter Menschen“ sei „kein Naturzustand, der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d. i. wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben.“
Die Zeit des Kalten Krieges haben wir, insbesondere im Westen als Zeit des Friedens missverstanden. Welch große Illusion. Das war nicht nur wegen der Atombombe absurd, sondern auch angesichts beständiger kriegerischer Auseinandersetzungen auf der Welt. Dabei hätte es genügt, nur den ersten Satz von Kants Schrift zu lesen, um sich vor Augen zu führen, wie illusionär unter diesen Vorzeichen jede Rede vom Frieden gewesen ist. Der Satz lautet nämlich: „Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden.“ Kant setzte übrigens keine Hoffnung in uns Menschen, sondern er glaubte, dass die Natur selbst dafür sorgt, dass irgendwann Frieden herrscht. Es sei ein „Mechanismus der Natur“, eine „waltende Vorsehung“, dass am Ende Frieden stehe. „Die Natur“, so Kant „will unwiderstehlich, dass das Recht zuletzt die Obergewalt erhalte.“ In seinem Werk kommt die Idee einer Weltrepublik vor, die ich aus vielen Science Fiction Büchern kenne. Meistens ist die Geschichte diese, dass in ferner Zukunft und nachdem sich die Menschen fast ausgerottet hatten, eine Weltregierung an die Stelle der bisherigen Einzelregierungen tritt. Schöne, utopische Idee. Kant war Realist und plädierte ja dafür, den Mut zu haben, seinen eigenen Verstand zu benutzen, er weist darauf hin, es könne an „Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das n e g a t i v e Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer ausbreitenden B u n d e s“ treten, um „den Sturm der rechtscheuenden, feindseligen Neigung auf(zu)halten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs“. Über 200 Jahre später ist unsere Welt immer noch so verletzlich und unvollkommen, dass sie sich von einem Einzelnen zurückbomben lassen kann. Und wieder erscheinen sämtliche philosophischen Gedanken zum Frieden, vor allem aber alle Aktivitäten zu dessen Sicherung, die Generationen von Verantwortlichen in Politik und Diplomatie unternommen haben, null und nichtig.
Können wir, das westliche Wertesystem erneut beweisen, dass wir das bessere sind? Das steht nicht fest. Wir haben einiges zu verändern. Pandemie, Klimawandel und jetzt ein barbarischer, hasserfüllter und völkerrechtswidriger Angriffskrieg vor unserer Haustür. Zusätzlich mit China ein kollektivistisches, autoritäres, unterdrückerisches Regime mit guten Chancen, die ökonomische Weltmacht zu erringen. Das sind Herausforderungen, denen wir uns vor allem geistig und mental stellen müssen. Dazu brauchen wir eine geistige Rundumerneuerung oder vielleicht auch das Besinnen auf die Fundamente, auf denen unser westliches, freiheitsliebendes Denksystem errichtet wurde.
Jeder Mensch sollte lernen, sich zu verteidigen. Und wir sollten generell wieder mehr Wert darauf legen uns geistig und körperlich bis ins hohe Alter zu fordern. Von Juvenal ist aus dem zweiten Jahrhundert aus einer seiner Satiren der bekannte Satz überliefert, dass nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist steckt. Er wurde aber, wie viele dieser Zitate aus seinem Zusammenhang gerissen und falsch interpretiert. Wörtlich heißt es bei ihm: […] orandum est ut sit mens sana in corpore sano. „Beten sollte man darum, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper sei.“ Juvenal kritisierte als Satiriker diejenigen seiner römischen Mitbürger, die sich mit törichten Gebeten und Fürbitten an die Götter wandten. Beten, meinte er, solle man allenfalls um körperliche und geistige Gesundheit. Mens sana in corpore sano ist also bei Juvenal im Zusammenhang mit dem Sinn und Inhalt von Fürbitten und Gebeten zu verstehen. Der Satz bedeutet bei Juvenal nicht, dass nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist stecken könne. Pierre de Coubertin wiederum, der Begründer der Olympischen Spiele der Neuzeit, machte sich über Sportmediziner und Pädagogen lustig, die für Mäßigung bei Leibesübungen eintraten. Er hielt ihrem Mens sana in corpore sano sein eigenes Mens fervida in corpore lacertoso („Ein feuriger Geist in einem muskulösen Körper“) entgegen. Sein Ideal war der débrouillard (Draufgänger), der Widerstände überwindet und im Sport wie in der Schule auf ein Leben als Führungskraft vorbereitet wird.
Ich habe gelernt: Ringen, wie jeder sportliche Zweikampf, das ist Taktik und mentale Stärke.
Dafür musst du dich fokussieren und alles andere ausblenden. Ich wünsche mir Politiker in Deutschland, der EU und in Amerika, die es schaffen, die inneren geistigen Kriege zu beenden und die einen Aufbruch erzeugen. Wir brauchen nicht nur Ideen, für neue Technologien, sondern vor allem Ideale und Werte, die den Rest der Welt klar und überzeugend signalisieren, dass unser Wertesystem das menschlichere ist. Wir brauchen starke und gesunde Menschen als Helden, oder auch Künstler die Vorbilder sein können. Ein Held meiner Jugend war Udo Lindenberg. In seiner ganz eigenen Art erfand er in den Achtzigern den Slogan: „Gitarren statt Knarren“. Und somit schließt sich der Kreis und es wird ein Wandel sichtbar. Meine Entscheidung für den (sportlichen) Kampf und gegen Gitarren, war ganz okay. Als ich aber vierzehn war und auf das Sportinternat sollte, wurde dieser Schritt durch die ärztliche Untersuchung, die mich als nicht tauglich befand, unterbunden. Ein Jahr später lernte ich autodidaktisch Gitarre spielen und heute bin ich wirklich mehr Musiker als Kämpfer. Mein Schutzengel, der hinter mir stand, als ich die Armeepistole abfeuerte, hat mich meistens begleitet, sodass ich heute ein glücklicher Mensch bin.